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Mikrostruktur
und mechanisches Verhalten des Schaumglases
 
von Dr. sc. techn. ETH Rudolf Trinkner
A.1. Die Morphologie des Schaumglases
 
A.1.1. Begriffe (1)

Das Wort "Schaum" ist ein Sammelbegriff, der für zwei grundsätzlich verschiedene Schaumarten gebraucht wird, nämlich für "Kugelschaum" und für "Polyederschaum".

Beim "Kugelschaum" handelt es sich um eine konzentrierte Verteilung oder Häufung selbständiger Kugelblasen in einem gasigen, flüssigen oder erstarrten Verteilungsmittel. Jede Blase des Kugelschaumes besitzt den ihr eigentümlichen kapillaren Krümmungsdruck, der dem Kehrwert des Krümmungsradius proportional ist. Durch Expansion oder Wachstum im begrenzten Raum verformen sich die Kugelblasen im viskosen beziehungsweise elastoplastischen Medium zwangsläufig zu polyedrischen Wabenblasen, ohne ihre Selbständigkeit aufzugeben ("unechter Polyederschaum").

Im Gegensatz zum Kugelschaum mit selbständigen Blasen handelt es sich beim "Polyederschaum" um einen Verband polyedrisch geformter Blasen, die ihre Selbständigkeit verloren haben. In diesem Blasenverband stellt sich im Gleichgewicht der nach verschiedenen Raumrichtungen wirkenden Kapillarkräfte eine bestimmte Gleichgewichtsstruktur ein, die nur ganz bestimmte Polyederformen der Blasen verwirklichen kann.

ln dieser Abhandlung befassen wir uns mit erstarrten Schäumen, die aus flüssigen Glasschmelzen gebläht wurden.

Deshalb können wir mit Hilfe obiger Begriffe folgende Schaumglasarten definieren:

  • 1)Kugelschaumglas und
  • 2)Polyederschaumglas.
 
A.1.2. Physikalische Grundlagen für das Verständnis der Morphologie des Polyederschaumglases

Die Struktur des Schaumes wird durch das Gleichgewichtsprinzip der Mechanik regiert. Es ist aequivalent zum Prinzip des minimalen Oberflächenenergie.

J. Plateau hat 1873 in seinem Buche "Statique Uxperimentale et theorique des liquides" die folgenden

Grundprinzipien für Polyederschäume aus Flüssigkeitslösungen formuliert:

  • a)Nur drei Filme können sich in einer Linie treffen und sie müssen sich unter den gleichen Winkeln von 120° schneiden (Gleichgewicht der Oberflächenkräfte oder Prinzip der minimalen Oberflächenenergie)1).
  • b) Nur sechs Filme können sich an einem Punkt treffen und benachbarte Randlinien ("Kanten") müssen sich unter gleichen Winkeln von 109° 28' schneiden (Folg,von a).
  • b) Jede Zellwand zwischen zwei Zellen muss eine konstante mittlere Krümmung  aufweisen.

Bemerkungen:

  • ad b) Wenn mehr als sechs Filme sich treffen würden, wäre das Gleichgewicht instabil (Mitteilung von 3. Plateau an Kelvin).

  • ad c) Der Film zwischen zwei benachbarten Blasen eines im Zustande des Gleichgewichtes befindlichen Flüssigkeitsschaumes wird in einem beliebigen Punkte durch die Flächenlast Δρ=2⋅α⋅K beansprucht.

    Dabei bedeutet  die mittlere Krümmung im betreffenden Punkte (R1 und R2 sind die zugehörigen Krümmungsradien, die verschiedene Vorzeichen haben, wenn die Krümmungsmittelpunkte auf verschiedenen Seiten des Zellwandfilmes liegen) und α die Oberflächenspannung des Flüssigkeitsfilmes.

  • 1)Unter Filme versteht man die Zellwände der Polyederschäume.

Folgerungen:

  • 1)Die Wandfolien zwischen zwei beliebigen Blasen eines Polyederschaumes weisen die konstante Flächenbelastung Δρ=Δρo auf. Damit hat diese Folie auch die konstante mitttiere Krümmung  (= Prinzip c) von J. Plateau.).
  • 2)Die Wandfilme eines im Gleichgewichtszustand befindlichen gewichtslosen allseitig unbegrenzten Polyederschaumes aus einer beliebigen Flüssigkeitslösung weisen alle die mittlere Krümmung  auf, da Δρ überall verschwindet; d.h. alle Blasen haben denselben Innendruck ρ.
 
A.1.3. Mikroskopische Beobachtungen am Schaumglas
 
A.1.3.1. Kugelschaumglas

Bild Nr. 3 zeigt die Elektronenmikroskopaufnahme der Bruchfläche einer Kugelschaumglasprobe aus gesintertem farbigen Altglaspulver (0≤Φ≤125μ), deren Dichte ρ=1.75gr / cm3 beträgt. Beim Sintern wurde die maximale Temperatur während 11 Minuten auf 960°C angehalten.

Bild Nr. 3. Bruchfläche einer Kugelschaumglasprobe im Masstab 392 : 1

Mit einer Röntgenuntersuchung konnte festgestellt werden, dass die hier behandelte Probe etwa 10 + 15 % Devitrit und Spuren von Cristobalit1) enthält. Anhand eines Dünnschliffes konnte die mittlere freie Distanz der Kugelblasen der hier dargestellten Kugelschaumglasprobe zu 80 μ bestimmt werden.

 
A.1.3.2. Polyederschaumglas

Eine Betrachtung des Anschliffes der von uns hergestellten Polyederschaumgläser zeigt im allgemeinen die in Bild Nr. 4 dargestellte Struktur.

Bild Nr. 4  Anschliff einer grobzelligen Polyederschaumglasprobe

1) SiO2. ist polymorph und tritt deshalb in der Natur in drei verschiedenen Kristallformen auf:

  • 1)als Quarz
  • 2)als Cristobalit (kubisch) und
  • 3)als Tridymit (hexagonal).

Es handelt sich hier um den Anschliff des gleichen Schaumglasquaders, wie er in Bild Nr. 1 gezeigt wurde. Man erkennt hier den Formenreichtum der unzähligen Polyederzellblasen!

Um ausdrücken zu können, dass die Zellwandungen aus formfesten und kapillarraumarmen Kugelschaumglas bestehen, wollen wir sie in Zukunft als Folien bezeichnen1).

Aufnahmen der Dünnschliffe durch eine beliebige Polyederschaumglasprobe mittels polarisiertem Licht zeigen, dass im Glas-Grundmaterial der Zellwandfolien sehr viele kleine Kristalle sowie nicht chemisch reagiertes Blähmittel eingelagert sind.

Da auch in der ursprünglichen Glasschmelze - aus der das Polyederschaumglas gebläht wird - Oberflächenspannungen wirksam sind, können die physikalischen Prinzipien für flüssige Polyederschäume, wie sie in Abschnitt 1.2 beschrieben wurden, auch auf das erstarrte Polyederschaumglas angewendet werden. Daher kann behauptet werden, dass im statistischen Mittel die Morphologie aller beliebigen zweidimensionalen Schnitte durch eine willkürliche Polyeder- schaumglasprobe durch folgende - mit den Prinzipien von J. Plateau im Einklang stehende - idealisierte Skizze ausgedrückt werden kann.

Idealisierter Schnitt durch eine Polyederschaumglasprobe

  • 1) E. Manegold versteht unter einer Folie ein formfestes kapillarraumarmes Blatt, während er unter einer Membran ein formfestes kapillarraumreiches Blatt versteht (1).

Wir sehen auch, dass dort, wo drei Zellwandfolien sich normalerweise unter dem Gleichgewichtswinkel von 120° treffen, die Oberflächen mit sogenannten Plateauränder zylindrisch ausgerundet sind.

 
A.1.4. Urbilder für die Elementarpolyeder des Zellwerkes wirklicher Polyederschaumgläser

Die Mittelflächen aller Zellwandfolien des Polyederschaumglases bilden ein Flächenwerk, welches Zellwerk heissen soll. Es wird von den Oberflächen der verschiedenartigsten konvexen Polyedern, die den Raum vollständig erfüllen, gesetzmässig aufgebaut. Diese Körper werden künftig als Elementarpolyeder oder Grundpolyeder des Zellwerkes des Polyederschaumglases bezeichnet!1)

Die Morphologie geht vom Gedanken aus, dass die reichhaltige Formenwelt der Elementarpolyeder des Zellwerkes einer beliebigen Polyederschaumglasprobe lediglich Abwandlungen eines Urbildes seien (2). Entsprechen ihrer Denkweise soll nun nach den Urbildern aller individueller Elementarpolyeder des Zellwerkes des Polyederschaumglases gesucht werden.

An die Urbilder der Grundpolyeder des Polyederschaumglases werden folgende Anforderungen gestellt:

  • 1)Es sollen aus lauter kongruenten Urbilder Zellwerke von Idealschaumgläser gebildet werden können, deren Morphologien im Einklang mit den Grundprinzipien für Flüssigkeitsschäume von J. Plateau stehen;
  • 2)Die kongruenten Urbilder müssen den Raum vollständig erfüllen (Folge von 1);
  • 3)Die prozentuale Verteilung der vier-, fünf- und sechseckigen Teilflächen des Zellwerkes eines solche# Idealschaumglases soll im statistischen Mittel möglichst den Beobachtungen in der Natur entsprechen.
  • 1)Der Ausdruck "Grundpolyeder oder Elementarpolyeder des Polyeder Schaumglases" soll das Gleiche bedeuten.
 
A.1.4.1. Das α- Tetrakaidekahedron von W. Kelvin als Urbild der Elementarpolyeder des realen Polyederschaumglases

Bild Nr. 5a zeigt das α - Tetrakaidekahedron von W. Kelvin (3), das als Grundpolyeder eines idealen Polyederschaumglases herangezogen werden kann.

Bild Nr. 5  Das α - Tetrakaidekahedron und das β - Tetrakaidekahedron

Dieser Polyeder ist eng auf das Abgeschnittene Oktaeder bezogen1). Es weist acht doppelt gekrümmte hexagonale Flächen und sechs viereckige ebene Flächen auf. Alle 36 Randlinien des α- Tetrakaidekahedrons sind kongruente ebene Bogen. Die gekrümmten Oberflächen (Minimalflächen) sind ein Erfordernis des Minimums der Oberflächenenergie.

ln einem Polyederschaumglas, dessen Zellwerk aus lauter solcher gleichen Elementarpolyeder aufgebaut ist, treffen sich drei Zellwandfolien unter einem Schnittwinkel von 120° an einer "Kante", eine ist vierseitig und zwei sind hexagonal. Dieses Idealschaumglas erfüllt alle Bedingungen von J. Plateau.

Das Polyeder bildet die Grundlage für die später zu behandelnden Modellpolyederschaumgläser "TOP" und "ORTHO".

 
A.l.4.2. Das β - Tetrakaidekahedron von R.E. Williams als Urbild der Elementarpolyeder des realen Polyederschaumglases

Matzke und Nestler zeigten, dass die statistische Verteilung der Polyederflächen des Zellwerkes der Seifenblasenpackungen sich sehr von derjenigen in Idealschäumen unterscheidet, welche Zellwerke besitzen, die aus lauter

  • 1)Das Abgeschnittene Oktaeder gehört zu den dreizehn Archimedischen Körpern

Kelvinpolyeder aufgebaut wurden. Sie stellten dabei eine Vorliebe für pentagonale Seitenflächen fest.

Die folgende Zusammenfassung von R.E. Williams möge dies illustrieren:

Konten pro Polyederflache 600 gleichförmige Blasen 0.1 oder 0.2cm3 % 1OO kleine Blasen 0.05 cm3 in Mischung % 50 grosse Blasem 0.4cm3 in Mischung %
Idealschaume aus
α-Tetrakaidekahedrons % β-Tetrakaidekahedrons %
3      
   
4 10.5 32.9 11.3
42.9 14.3
5 67.0 58.1 48.1
  57.1
6 22.1 8.9 28.3
57.1 28.6
7 4.4 0.1 11.2
   
8     1.0
   
9     0.1
   

Aus diesem Grunde schlug R.E. Williams 1968 das β - Tetrakaidekahedron als Grundpolyeder für das Zellwerk natürlicher Schäume vor (4)!

Bild Nr. 5c zeigt das neue Polyeder von R.E. Williams, das als Elementarpolyeder eines mit den Grundprinzipien von J. Plateau verträglichen Idealpolyederschaumglases angesehen werden kann. Es kann mechanisch vom Kelvinpolyeder abgeleitet werden, indem man irgend eine "Kante" zweier seiner benachbarten sechseckigen Flächen - inklusive den an ihren Enden anschliessenden "Kanten" - nimmt (siehe Bild 5a), das Ganze verdreht und wieder zusammenfügt. Das resultierende Polyeder (Bild Nr. 5b) mit vier vierseitigen und vier fünfseitigen und sechs sechseckigen Flächen ist ebenfalls raumerfüllend. Anschliessend wird die gleiche Operation mit der entsprechenden Gruppe von "Kanten" auf der gegenüberliegenden Seite des Polyeders ausgeführt. Man erhält dann den Körper (β -Tetrakaidekahedron) auf Bild Nr. 5c.

Diese Transformation behält die gleiche Anzahl von 14 Flächen, 24-Ecken und 36 "Kanten" bei wie das α - Tetrakaidekahedron und die Eckwinkel bleiben 109°28'. Wie die obenstehende Tabelle zeigt, entspricht die prozentuale Verteilung der Flächen ungefähr den Verhältnissen in der Natur.

Dieser Grundpolyeder wird später verwendet, um das Elementarpolyeder des Modellschaumglases "BETA" zu entwerfen.

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A.2. Stereologische und volumetrische Untersuchungen